background
image1 image2 image3

Handhabung und Training der okinawischen Sai

von Toshihiro Oshiro und William H. Haff 

Jeder umfassende Rückblick auf die Geschichte okinawischer Waffenkunst mündet in einer Mischung aus Mythen und Fakten. Den meisten Schülern moderner Kampfkünste wird erklärt, das okinawanisches Kobudo sei das Ergebnis der zweimaligen Entwaffnung der okinawanischen Samurai in der Vergangenheit.

Eine Rückschau auf diese Ereignisse zeigt jedoch, dass unsere heutige Auffassung über die Ursprünge des okinawanischen Kobudo möglicherweise auf Missverständnissen beruht.

Das erste Mal als die Waffen vermeintlich beschlagnahmt wurden, war während der Regierungszeit von König Shoshin (1477-1526). Während es historisch belegt ist, dass König Shoshin seinen Provinzfürsten, den Aji, befahl, in der Nähe seines Schlosses in Shuri zu leben, glauben viele Historiker nicht mehr, dass er seine herrschende Gesellschaftsschicht vollständig entwaffnete. Ein berühmtes Steindenkmal, das Momo Urasoe Ran Kan No Mei, in das die Höhepunkte von König Shoshins Regierungszeit eingemeißelt sind, berichtet davon, wie der König den Aji die Schwerter abnahm und auch, wie er einen  Waffenvorrat in einem Lager in der Nähe des Schlosses von Shuri angesammelt hat. Einige Historiker fassen dies so auf, dass König Shoshin vielmehr eine Waffenkammer eingerichtet hat,  um seine  Häfen zu schützen und sie auf jede denkbare Invasion durch Wako, also Piraten, vorzubereiten und weder den okinawanischen Samurai, noch der allgemeinen Bevölkerung die Waffen abnahm.

Das zweite Mal, dass die okinawanischen Samurai entwaffnet wurden, wie man sagt, war nach der Satsuma-Invasion 1609. Allerdings wurden Dokumente wiederentdeckt, welche bestätigen, dass die Satsuma den Besitz und Verkauf von Feuerwaffen ächteten, jedoch allen okinawanischen Samurai der Pechin Klasse und höherer Ränge erlaubten, die Musketen und Pistolen, die bereits in Familienbesitz waren, zu behalten. Es ist weiter dokumentiert, dass die Satsuma den okinawanischen Samurai 1613 die Erlaubnis gaben, mit ihren persönlichen Schwertern (Tachi und Wakizashi) zu den Schmieden und Polierern nach Kagushima/Japan zu reisen, um sie pflegen und reparieren zu lassen. Aus diesem Zugeständnis lässt sich logischerweise folgern, dass es für die okinawanischen Samurai beim Tragen der Schwerter in der Öffentlichkeit Einschränkungen gab.

Andererseits ist es ein klarer Beweis, dass diese Waffen nicht von den Satsuma beschlagnahmt wurden. 
Basierend auf dem Irrtum, die okinawanischen Samurai wären von den Satsuma ihrer Waffen beraubt worden, werden die meisten Schüler moderner Kampfkunst gelehrt, dass sich das okinawische Kobudo entwickelte, weil die Okinawaner fortan Bauernwerkzeuge für die Selbstverteidigung und zum Training verwendeten. Wenn man aber speziell die Sai betrachtet, erkennt man, dass die Glaubhaftigkeit dieses weit verbreiteten Mythos äußerst fraglich ist. Sensei Toshihiro Oshiro, der seit langem Yamanni-Chinen Ryu Bojutsu betreibt und Cheftrainer des Ryukyu Bujutsu Kenkyu Doyukai – USA ist, erzählt, er hätte während seiner eigenen, umfangreichen Suche nie einen Beweis gefunden, der die Theorie belegen würde, dass Sai je als landwirtschaftliche Geräte benutzt wurden. Auch wurde ihm dies von keinem seiner Lehrer gesagt. Er ist der Meinung, dass die Sai seit jeher eine Waffe gewesen sind. Wenn das der Wahrheit entspricht, wo und wie entstanden dann die Sai?

Geschichten über die Herkunft der Sai

Eine Überlieferung besagt, dass die Sai ihren Weg in die Geschichte der Ryukyu fanden, indem sie dem Weg des Buddhismus, von Indien nach China und von dort nach Okinawa, folgten.
Oshiro Sensei poses in a kamae that demonstrates the concept of "kakushi buki" or concealment of the weapon. The idea behind it is that the opponent cannot tell exactly what you are holding and how long the weapon is. This gives one the advantage of surprise. Keep in mind that in the old days the normal dress was a kimono that had very long and baggy sleeves that could conceal a short weapon much better than a standard karate gi worn today.

 

 

Die Form der Sai sei nach dem Bild des menschlichen Körpers gestaltet worden; nach den Mönchen, die sie zu ihrem Schutz benutzten. Obgleich es nur bedingt möglich ist, dies sicher zu stellen, bleibt es ein interessanter Gedankengang.
Eine andere, neuere Geschichte, welche Kampfkunstübende oft hören, erläutert, der Umgang mit den Sai wäre bei den okinawanischen Polizeikräften entstanden, welche die Sai als ihre persönliche Seitenwaffe  führten, um Menschenmassen zu kontrollieren und um Kriminelle festzunehmen. Diese Geschichte gewinnt an Glaubwürdigkeit, weil einer von Okinawas  führenden Sai-Experten Kanagushiku (Kinjo) Ufuchiku war, ein hoch angesehener Polizeikapitän, der von 1841bis 1926 lebte. Sensei Oshiro glaubt dessen ungeachtet, dass, wenn die Sai als Waffe für die Polizei benutzt wurden, es einige Beweise in aufgezeichneten Gesetzen oder Vorschriften aus dem vorigen Jahrhundert der okinawischen Geschichte geben müsste. Bis heute hat Sensei  Oshiro auf seiner Suche keinen Beweis finden können, der diese Geschichte untermauern würde. Er denkt, dass die Sai eine weitaus größere Anhängerschaft in der Gemeinschaft der okinawischen Kampfkünstler hatte.

 

 "Kakushi Buki" Der Gebrauch von versteckten Waffen

Wie oben schon erwähnt, wurden, obwohl die Satsuma die Waffen der okinawanischen Samurai-Kaste nicht konfiszierten, strenge Einschränkungen auf das Recht, ihre Waffen in der Öffentlichkeit zu tragen, erlassen. Die Okinawer vertrauten verstärkt auf das „kakushi buki“, d.h. die Praktik der verborgenen Waffen, zur Selbstverteidigung sowie zur Verteidigung ihrer Familie und ihres Besitzes. Sensei Oshiro behauptet, die Sai wären eine der am weitesten verbreiteten Waffen für diesen Zweck gewesen.
Die Samurai trugen oft drei Sai gleichzeitig, in den Ärmeln ihres Kimonos und im Obi (Gürtel) verborgen. Diese versteckten Sai waren typischerweise kürzer als die modernen, welche heutzutage benutzt werden. Sie hatten eher gerade Flügel als geschwungene, da diese sich nicht so leicht an den Kleidern einhakten, wenn sie gezogen wurden. Sobald die Okinawer merkten, dass sie unmittelbar Gefahr liefen, angegriffen zu werden, schlugen oder warfen sie unverzüglich mit ihrer verborgenen Waffe. Da das Werfen der Sai eine gebräuchliche Technik war, trug man normalerweise mehr als eine.

Viele Anhänger der modernen Kampfkunst behaupten, dass sie wegen ihrer geflügelten Bauweise zum Blocken von Boangriffen verwendet wurden. Während diese Behauptungen technisch ausführbar wäre, würden die Reichweite und die Triebkraft der längeren Waffe aber eine Verteidigung mit der Sai riskant machen. Sensei Oshiro glaubt, dass die Sai normalerweise für den „ersten Schlag“ oder einen Überraschungsangriff benutzt wurden. Die geflügelte Form einer Sai erhöht ihre Vielseitigkeit und ermöglicht eine Vielzahl von Schlagtechniken.
Es gibt auch Beweise, dass der Gebrauch von Sai weiter in das Kampftraining der Okinawaner einbezogen wurde um andere Disziplinen zu verbessern. Viele okinawanische Kampfkunstbücher erzählen davon, dass die Sai für „hojo undo“, d.h. Ausdauertraining, verwendet wurden.
 
Eine verborgene Technik für den „In-fight“, ist der Stoß mit
der Saispitze aus dem Basisgriff. Das funktioniert natürlich
nur, wenn die Sai-Länge über den Ellbogen hinausgeht

Zwar ist es möglich, dass die einheimischen Kampfkünstler schwere Sai zum Kämpfen benutzten, aber es ist viel wahrscheinlicher, dass sie Trainingswerkzeuge waren, die verwentet wurden, um den Arm und das Handelenk zu stärken. So ähnlich wie das Schwingen eines beschwerten Schlägers im Baseball-Schlagtraining, hätte diese Trainingsart nicht nur Saischläge verbessert, sondern sich genauso auf das Karate- und Botraining übertragen.

In Bild „A“ steht Sensei Oshiro mit der gesenkten Sai an seiner Seite. Um nicht zu zeigen, wann man vorhat, zu schlagen, muss man ohne jegliche Vorbereitung oder Ausholbewegung schlagen. In diesem Fall folgen die Bilder „B“ bis „E“. Man sollte bemerken, wie die Sai direkt aus der gesenkten Position zum Ziel kommt und sofort wieder zurück in die Ruhestellung um den nächsten Schlag abzuwarten.


Die Sai im modernen Kampfkunsttraining

Die Sai wurden Jahre lang in Okinawa trainiert. Allerdings war dies ein sehr individuelles Training. Da man die Sai vor allem für die Selbstverteidigung verwendete, wurden sie nicht systematisch als eigenständiger Kampfkunststil gelehrt. Jeder trug und versteckte die Sai an einer anderen Stelle und entwickelte seine eigenen Lieblingstechniken. Deshalb haben die Sai eine weniger dokumentierte Geschichte in der okinawanischen Kampfkunst als der Bo und das Karate. Die „traditionellen“ Sai-Kata, die heute geübt werden, sind relativ neue Schöpfungen. Sollten die bisherigen Ausführungen also wahr sein, wo stehen dann viele moderne Kampfkünstler, wenn sie über ihr Sai-Training und den Platz der Sai in der okinawanischen Tradition des Kobudo nachdenken? Wenngleich die Sai-Kata keine so lange Tradition, wie die Bo-Kata haben, hält Sensei Oshiro das Erlernen von solchen als überaus hilfreich für moderne Budoka. Beginnend mit grundlegenden Techniken, kann der heutige Schüler lernen, wie man die Sai greift, wie man das Handgelenk beim Schwingen benützt und einen stärkeren Schlag entwic ­­kelt. Moderne Schüler sollten stundenlang ihre Schlaggeschwindigkeit und ihre Fähigkeiten üben. Sensei Oshiro bläut seinen eigenen Schülern stets ein: „Wenn ihr die Sai schwingt, sollt ihr immer die Luft schneiden. Schwingt schnell, aber lasst nie eure Arme aus eurer Körperlinie kommen. Grundsätzlich sollt ihr immer versuchen, weite Distanzen zu ereichen, wenn ihr schwingt. In fortgeschritten Formen sollt ihr nach einem Schlag immer zurückschnappen, eure Sai verstecken und den nächsten Schlag vorbereiten.“

Viele Sai-Techniken enthalten heutzutage starre, karateähnliche Schläge und Stöße. Die Sai können aber viel effektiver eingesetzt werden, wenn man schlitzende und schneidende Bewegungen macht. Im oberen Bild, beispielsweise, wird ein gebräuchlicher Jodan Schlag gezeigt, der in der gezeigten Position endet.
Die Bewegung wird effektiver, wenn man über diesen Punkt hinausschlägt und das Kime, bzw. den Fokus am Ende des Bogens setzt (im rechten Bild). So bedroht die Bewegung nicht nur den Kopf, sondern auch den gesamten Torso, die Hände, Arme und sogar die Beine des Gegners.
Mit Kihon-Übungen für die Sai, kann man Anfängern hervorragend beibringen, die Arme  nacheinander zu bewegen, erst eine Seite und dann die andere. Aber in anspruchsvolleren Techniken sollten letztendlich sowohl die linke als auch die rechte Sai gleichzeitig benutzt werden, fließend von einer Technik (waza) zur nächsten.

 „Natürlich“, sagt Sensei Oshiro, „wenn man eine bestimmte Kombination oder Kette von Techniken abschließt, muss man Kime bzw. einen Fokus setzten.“  Gemäß dem „kakushi buki“, sollten moderne Trainierende versuchen, ihre Schläge von dort zu initiieren, wo ihre Hände im Moment sind, ohne viel vorzubereiten oder auszuholen. Gleichzeitig dürfen sie die Spitze der Sai nicht vom Unterarm trennen, wenn sie einen Schlag vorbereiten, die Position der Sai verraten und dem Gegner somit die beabsichtigte Bewegung mitteilen. Da die Sai nur eine kurze Reichweite haben, ist die Fußarbeit ein kritischer Punkt beim korrekten Gebrauch dieser Waffe. Zu lernen, wie man sich dynamisch hinein- und herausbewegt, sowie die Seiten und Winkel ändert, wird dem modernen Sai-Schüler viele herausfordernde Trainingsstunden bescheren. Fußarbeit, Hüftbewegung und der Oberkörper sollten für maximale Wirkung und Effektivität zusammenarbeiten. Gute ausgearbeitete Kata sollten all diese Elemente enthalten. Man sollte in seinen Kata stets grundlegende und fortgeschrittene Techniken suchen.  Die Kunst und das Training der okinawanischen Sai hat eine lange, unklare Geschichte. Trotz der Tatsache, dass unsere jetzigen Ansichten über die Ursprünge der Sai nicht definitiv sind, bietet das Training mit Sai heutigen Kampfkünstlern eine Chance, auf die „alten Wege“ zurückzusehen und das moderne Training mit dem Geschmack des damaligen Okinawa zu würzen.

The research for this article is based on Sensei Oshiro's own experience, the oral traditions passed along by his teachers, and from the following texts:
Okinawa No Rekishi by Eisho Miyagi (1968)
Okinawa Ken No Rekishi by Keiji Shinzato, Tomoaki Taminato, Seitaku Kinjo (1972)
Shijitsu To Dento O Kokoru Okinawa No Karate-Do by Shoshin Nagamine (1975)
Okinawa No Dento Kobudo by Masahiro Nakamoto (1983)
Taidan-Kindai Karate-Do No Rekishi O Kataru by Shinkin Gima, Ryozo Fujiwara (1986)
Karate No Rekishi by Tokumasa Miyagi (1987)
Ryukyu Ohkoku by Kurakichi Takara (1990)
Ryukyu Bojutsu by Katsumi Murakami (1992)
Ryukyu Oh-koku No Jidai by Okinawa Kokusai Daigaku Kokai Koza Iinkai (1994)

Quelle: http://www.oshirodojo.com


Übersetzt von Florian Fischer

 

Zurück

Copyright RBKD Germany © 2024